SPIEGEL ONLINE - 05. April 2006, Interview zur Italienwahl

Das Interview führte Alexander Smoltczyk

"Kein Kerker für den Cavaliere"

Der in Italien und Deutschland zugelassene Anwalt Jürgen Reiss meint Italiens Premier Silvio Berlusconi werde trotz eines anstehenden Verfahrens ungeschoren davon kommen. Im SPIEGEL-ONLINE-Interview benennt der Spezialist für Italiens Rechtssystem die juristischen Fallstricke, die Berlusconi nach der (Ab-)Wahl erwarten.

SPIEGEL ONLINE: Muss Berlusconi die Wahl auch deshalb gewinnen, um vor der Verfolgung durch die Staatsanwälte geschützt zu sein? Immerhin ist schon einer seiner Vorgänger und Freunde, Bettino Craxi, seinerzeit nach Tunesien geflüchtet.

Reiss: Nein. Das Amt des Presidente del Consiglio schützt nicht vor Strafverfolgung. Es gab zwar das "Losi-Schifani-Gesetz" vom Juni 2003, das die Immunität der Träger der fünf wichtigsten italienischen Staatsämter vorsah. Daraufhin wurde das Strafverfahren gegen Berlusconi im Fall "Sme" vom Tribunale di Milano einstweilen ausgesetzt und das Gesetz dem Italienischen Verfassungsgericht vorgelegt. Dieses erklärte Anfang 2004 das Gesetz für verfassungswidrig und begründete dies mit einem Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz und einer Verletzung des Rechts, sich vor Gericht zu verteidigen. Das wieder aufgenommenen Verfahren gegen Berlusconi im Fall "Sme" wurde später wegen Verjährung eingestellt.


SPIEGEL ONLINE: Könnte also auch ein wiedergewählter Premier Berlusconi in dem anstehenden Verfahren wegen angeblicher Steuerhinterziehung und Bestechung vernommen werden?


Reiss: Das italienische Strafprozessrecht sieht keine Besserstellung von Amtsträgern im Hinblick auf die Durchführung von Vernehmungen vor. Auch die parlamentarische Immunität wurde 1993 abgeschafft. Berlusconi wurde im Jahr 2002 schon im Fall "Sme" an seinem Regierungssitz "Palazzo Chigi" vernommen. Allerdings betraf das Verfahren nur Marcello Dell"Utri, da das Verfahren gegen ihn nicht mehr betrieben wurde. Er machte von seinem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch.


SPIEGEL ONLINE: Was würde ihm im Falle eines Schuldspruchs passieren?


Reiss: Nach einer Verurteilung würde die Staatsanwaltschaft die Inhaftierung anordnen. Beträgt die Freiheitsstrafe nicht mehr als drei Jahre, würde diese zur Bewährung ausgesetzt. Ist eine Freiheitsstrafe von nicht mehr als vier Jahren verhängt worden, kann diese örtlich am Wohnsitz des Verurteilten verbüßt werden, wenn dieser siebzig Jahre oder älter ist. Letztlich wird Berlusconi bei einer Verurteilung seine Strafe wohl kaum in einem Gefängnis verbüßen müssen, da er noch nie verurteilt wurde und daher eine Bewährungsstrafe wahrscheinlich wäre. Zieht man auch sein Alter in Betracht, wird ihn auch eine nicht zur Bewährung ausgesetzte Freiheitsstrafe kaum hinter Gitter bringen.


SPIEGEL ONLINE: Beim "Mediaset-Prozess" geht es unter anderem um Falschaussagen eines britischen Anwaltes, der mit einer englischen Ministerin verheiratet war. Wie schätzen Sie die Aussichten auf eine Verurteilung Berlusconis ein?


Reiss: Bisher sind kaum Details an die Öffentlichkeit gelangt, weshalb der Ausgang des Verfahrens nicht abzusehen ist. Allerdings ist eine Verurteilung unwahrscheinlich, wenn eindeutige Beweise nicht bestehen, da sich Berlusconis Anwälte in den bisherigen Verfahren prozesstaktisch sehr raffiniert verhalten haben, indem sie jegliche Schwachpunkt der Anklage sofort erkannt und zum Vorteil Berlusconis eingesetzt haben.


Darüber hinaus ist zu bedenken, dass die Beteiligung der italienischen Öffentlichkeit an den Berlusconi-Prozessen sehr verhalten ist, da kaum noch ein Interesse an den Verfahren besteht. Dies liegt insbesondere daran, dass diese bisher zu keinen eindeutigen Ergebnissen geführt haben, sich lange hinziehen und daher von der Öffentlichkeit eher als lästig empfunden werden.
Ein Ablassen der Ermittlungstätigkeit durch die italienische Staatsanwaltschaft ist nicht zu verzeichnen und auch nicht zu erwarten, da Berlusconis Versuche, deren Unabhängigkeit deutlich zu beschneiden, gescheitert sind. Auch in diesem neuen Prozess wird die Staatsanwaltschaft alles versuchen, um eine Verurteilung zu erzielen. Letztlich wird aber wohl gerade diese Verbissenheit der Staatsanwaltschaft wieder dazu führen, dass es zu politischen Konfrontationen mit den Ermittlern kommt und die Wahrheitsfindung in den Hintergrund tritt. Dies wird sich, wie die zurückliegenden Verfahren gezeigt haben, zugunsten von Berlusconi auswirken.


SPIEGEL ONLINE: Welche juristischen Möglichkeiten hätte eine etwaige Mitte-Links-Regierung, die Medienallmacht Berlusconis aufzubrechen?


Reiss: Denkbar wäre, die Anti-Trust-Behörde zu stärken. Das im europäischen Vergleich nicht sonderbar schneidige italienische Kartell- und Wettbewerbsrecht könnte durch eine von Romano Prodi angeführte Regierung effektiver ausgestaltet werden, was insbesondere im Hinblick auf die sinkende Wettbewerbsfähigkeit italienischer Unternehmen unerlässlich ist. Dieser Herausforderung ist sich Prodi, der möglicherweise, den ehemaligen Wettbewerbskommissar Mario Monti in sein Kabinett berufen wird, bewusst. Allerdings ist kaum zu erwarten, dass sich eine Mitte-Links-Koalition um die Rückgängigmachung der zahlreichen "ad personam"-Gesetze bemühen wird, da dies wieder die politische Debatte anheizen würde, was Berlusconi zu Gute käme. Zu erwarten ist vielmehr ein langfristiger Prozess der Zersetzung des Berlusconi-Imperiums, den er selbst wohl noch kaum erleben wird.

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