Nicht nur Akten lesen, Schriftsätze diktieren und Prozesse führen Der Rechtsanwalt: Geschäftsmann, Organisator und Psychologe zugleich

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 4. September 1999: Beruf und Chance von Elke Bohl

Für Jürgen Reiß sind diese Zusammenhänge täglich Brot. Seit Ende 1996 ist der Rechtsanwalt aus Karlsruhe sein eigener Herr. Reiß ist ein Beispiel dafür, wie man mit einer pfiffigen Idee und dem nötigen Durchhaltevermögen auch als Einzelanwalt bestehen kann. Er hat sich beizeiten auf das italienische Recht verlegt und sich durch das parallele Studium der Romanistik auch die nötigen Sprachkenntnisse angeeignet. Seine Wahlstation im Referendariat verbrachte er im Büro einer deutschen Kanzlei in Bologna und nutzte die Zeit, um nebenher an der Universität ein Diplom als Übersetzer für Italienisch zu erwerben. Nach dem Zweiten Staatsexamen und einem weiteren Jahr in einer Kanzlei in Italien stand sein Entschluss dann aber fest. Er wollte selbständig werden. Eine Stadt in Baden-Württemberg, in der viele Italiener lebten, schien ihm als Standort günstig, und so fiel die Wahl auf Karlsruhe. Den Anfängen in einem Vorort folgte schon bald der Umzug in die Karlsruher Innenstadt. Die Kanzleiräume liegen mitten in der Fußgängerzone, im ersten Stock "über einem Geschäft mit italienischer Designer-Mode".

Der Weg dorthin war allerdings kein Spaziergang. Mit der Vorstellung, es genüge, eine Marktlücke zu finden, räumt Reiß schnell auf. "Am Anfang hatte ich gar keine italienischen Mandanten", dafür aber umso mehr Anlaufschwierigkeiten. Einmal blieb das Telefon zwei Tage lang still. "Da dachte ich schon, es sei kaputt", erinnert sich der Anwalt. Ihm sei zugute gekommen, dass die Möglichkeit der Anwaltswerbung in dieser Zeit gelockert worden seien. Damit konnte er beispielsweise sein Diplom als Dolmetscher im Briefkopf verwenden. Das allerdings reichte freilich nicht, um Mandanten zu gewinnen. "Kluge Akquisition" bezeichnet Reiß als Grundlage seines wirtschaftlichen Erfolgs. Einzelheiten will er allerdings nicht preisgeben. "Berufsgeheimnis", sagt er lächelnd. Die Kanzlei laufe jedenfalls sehr gut. Auch die neuen Räume habe er schon erweitern müssen, um Platz zu schaffen für weitere Angestellte. Gegenwärtig beschäftigt Reiß zwei Anwälte, außerdem ständig zwei Referendare und drei Sekretariatskräfte.

Sein typischer Arbeitstag beginnt um neun Uhr und endet abends um acht. Telefongespräche, Termine mit Mandanten und bei Gericht nehmen den größten Raum ein. Gelegenheit, um Schriftsätze zu diktieren, Akten zu lesen und Fälle zu überdenken, finde er in der Regel erst nachmittags nach fünf. Sich Zeit zu nehmen für die Mandanten, sei sehr wichtig, meint Reiß. Wenn ein Klient stets einem gehetzten Anwalt gegenübersitze, werde er wohl kaum den Eindruck gewinnen, er befinde sich in guten Händen. Wer seine Mandanten gut beraten und damit letztlich als Anwalt auch wirtschaftlich erfolgreich sein wolle, brauche darum mehr als nur juristische Kenntnisse. "Jurist bin ich nur zu 20 Prozent, aber zu 80 Prozent Geschäftsmann, Organisator und Psychologe."

Zu seinen Klienten zählt Reiß mittlerweile auch zahlreiche Unternehmen aus Deutschland wie aus Italien, und so ist er häufig jenseits der Alpen unterwegs. Als nächstes will er die Anwaltszulassung in Bologna erwerben, um auch dort vor Gericht auftreten zu können. Die Frage nach seinen Umsatzzahlen lässt Reiß auf charmante Weise unbeantwortet. Immerhin so viel aber verrät er: Es geht ihm so gut, dass er an einem Tag in der Woche die Kanzlei seinen Mitarbeitern überlassen kann. Dann widmet er sich einem weiteren ehrgeizigen Projekt - seiner Promotion, natürlich über ein Thema aus dem italienischen Recht.

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