JURAcon-Jahrbuch 2014 - Interview mit Dr. Jürgen Reiß

Das Interview führte Falk Schornstheimer.

Wie kommt man als deutscher Jurist auf Italien und italienisches Recht?

Nach meinem Abitur 1985 und meinem anschließenden Wehrdienst begann ich zunächst eine Banklehre. Das war damals weit verbreitet, eine richtige Modeerscheinung unter Abiturienten. Anschließend entschloss ich mich, Jura zu studieren. Es hätte sicherlich nahegelegen, schnell das Studium durchzuziehen, gute Examina abzulegen, zu promovieren und in eine Großkanzlei einzutreten. Aber ich wollte etwas anderes. Ich wollte dringend etwas machen, das mir gefällt. Zu dieser Zeit war ich total fasziniert von Italien, von der Schönheit des Landes – Frankfurt war nämlich ziemlich hässlich in den Achtzigerjahren…

Was schätzen Sie an Italien?

Ja, ja, ich kenne das Klischee: Italiener reden viel und realisieren wenig, dort funktioniert nichts usw. Was finde ich gut? Ich kann es Ihnen sagen: Das Zwischenmenschliche. Man beharkt sich intensiv vor Gericht oder in Schiedsverfahren, geht aber anschließend einen Kaffee trinken und raucht eine Zigarette zusammen. Ob arm oder reich, ob Vorstandsvorsitzender oder Arbeiter: Alle treffen sich abends in der gleichen guten Pizzeria wieder. Man duzt sich, man redet überhaupt mehr, in Italien ist es sehr, sehr kollegial – in Deutschland herrscht doch meist eine sehr kühle Atmosphäre.

Wie hoch ist die sprachliche Hürde, bis man in Italien bei Gericht zugelassen werden kann; Italienisch ist ja keine Schulsprache?

Ich interessierte mich von früh an für Kunst und Literatur und studierte neben Jura auch Romanistik, weil ich die italienische Sprache sehr schön fand. Ich suchte nach Kombinationsmöglichkeiten zwischen Jura und Romanistik. Während meines Studiums in Heidelberg war ich ständig in Italien, zunächst vor allem in der Toskana, in Ferrara, später in Bologna – und habe dort auch schon Jura-Kurse belegt, nebenbei gejobbt. Nach dem ersten Staatsexamen war für mich klar: Nach dem zweiten Examen gehst Du nach Italien. So verbrachte ich die Wahlstation in Italien und perfektionierte meine Sprachkenntnisse. Damals dachte ich: Naja, Du kannst ganz gut Italienisch, was mir in Unterhaltungen auch bestätigt wurde. Aber spätestens beim Lesen und Verfassen von Schriftsätzen merkte ich, wie viel ich noch lernen muss. Dann, nach dem zweiten Examen, begann ich als deutscher Anwalt in Italien zu arbeiten und verfasste zugleich meine Doktorarbeit zu einem Thema des italienischen Rechts. Auch dies, die Recherche in den Bibliotheken und die umfangreichen Lektüren, haben mir in Punkto Sprachkenntnis viel gebracht. Meine Romanistik- und Sprach-Scheine aus Italien wurden in Deutschland anerkannt und ich wurde schließlich als Gerichtsdolmetscher zugelassen. Dann 1996, als ich das Studium beendet hatte, musste ich mir selber die Gretchenfrage stellen: Wohin soll es nun gehen, was mache ich damit? Bleibe ich in Bologna, gehe ich nach Mailand in eine italienische Großkanzlei? Mir wurde aber schnell klar, dass ich beruflich doch besser im deutschen Anwaltsmarkt vorankommen würde. Der war moderner, mehr am Business. Als Student und Doktorand in Italien zu arbeiten, war toll, wirklich angenehm. Wenn Sie aber als Berufsträger, als Anwalt, dort arbeiten sollen und sich mit den vielfältigen bürokratischen Hürden auseinandersetzen müssen, mit den Umständlichkeiten, die damit zusammenhängen, kommen Sie ins Grübeln.

Wie haben Sie entschieden?

Ich entschied dann, mich in Deutschland niederzulassen und – solange ich noch promoviere, so war meine Vorgabe – es alleine zu probieren. Ziel war vorrangig, mich bis zum Abschluss meines Promotionsverfahrens einigermaßen über Wasser zu halten und dann mit Anfang Dreißig in eine angesehene Kanzlei einzutreten. Ich machte mich in Karlsruhe selbstständig, weil dort eine Community von über 6000 Italienern lebte und ich dachte: Für die kann ich tätig werden. Darauf hatte mich das Italienische Generalkonsulat in Stuttgart aufmerksam gemacht; 6000 Italiener in Karlsruhe – die brauchen einen italienischsprachigen Anwalt. Von meinen Freunden und Studienkollegen wurde ich natürlich für verrückt erklärt. Jedoch: Schneller als mir lieb war, hatte ich wahnsinnig viel zu tun. Und war total begeistert! Ich war zwei Jahre so beschäftigt und auch zufrieden, dass ich die Dissertation habe schleifen lassen. Ich war in Karlsruhe wirklich Mädchen für alles, habe mich mit Familienrecht beschäftigt, Restaurantbesitzer beraten, ganz alltägliche Fälle. Das war übrigens eine sehr dankbare Mandantschaft, ich wurde eingeladen zu Familienfesten, Kindstaufen usw. Ich war fast so eine Mischung aus Rechtsanwalt und Sozialarbeiter. Nach zwei Jahren, 1998, habe ich aber intellektuell eine Krise bekommen und sagte mir. Dafür hast du nicht Jura studiert und so gute Examen gemacht, der Weg muss in eine größere Kanzlei gehen. Dazu musste ich zunächst meine Dissertation abschließen, was zwei Jahre später der Fall war. Ich bekam in dieser Zeit dann auch ein hochattraktives Angebot aus einer Großkanzlei, wo ich den „Italian Desk“ hätte mit aufbauen können. Das lehnte ich aber ab.

Warum? Sie suchten doch gerade nach den größeren Fällen, der geistigen Herausforderung?

Weil ich inzwischen gemerkt hatte: Ich bin letztlich ein Einzelgänger, ich will mir nichts sagen lassen. Ich bin immer gegen den Strom geschwommen und habe meine eigenen Vorstellungen durchgesetzt – auch wenn viele mich immer wieder für verrückt erklärten. Auch wenn also meine Mandate klein und meine Mandantschaft oft sehr anstrengend war: ich war mein eigener Herr. Ich schloss mich dann mit einem befreundeten italienischen Avvocato zusammen, den ich aus dem Studium kannte, und so deckten wir schon mal die Achse Karlsruhe-Bologna ab. Von da an verbrachte ich immer drei Wochen im Monat in Karlsruhe und eine in Bologna. Mein Ziel war es vom Avvocato stabilito, dem EU-Anwalt in Italien, zum Avvocato integrato, zum richtigen italienischen Rechtsanwalt zu werden. Ich bin also bei meinem Partner in die Lehre gegangen und habe ihn zu den Prozessen begleitet. 2003 bekam ich meinen Doktor und zeitgleich kam auf Empfehlung der C.H. Beck-Verlag auf mich zu mit der Anfrage, ob ich Co-Autor einer Monographie zum italienischen Erbrecht würde. Danach konnte ich natürlich leicht weitere Aufsätze platzieren und überhaupt viel publizieren.
Inzwischen hatte ich meine Aufenthalte in Bologna aufgestockt. Man kann sagen, ich war halbe-halbe in Karlsruhe und Bologna und begann Vorträge bei der IHK in Florenz und Bologna zu halten. Mit der Zeit gewann ich auf diese Weise immer mehr interessante gewerbliche Mandanten mit lukrativen Mandaten, so dass ich die Tätigkeit für die Italiener in Karlsruhe zurückschrauben konnte. Auf das Erbrechtsbuch folgte ein Immobilienrechtsbuch, so dass meine beiden Lieblingsrechtsgebiete abgedeckt waren. Im Gesellschaftsrecht, meinem dritten Spezialgebiet, veröffentlichte ich ein Büchlein für die IHK, so dass ich auch darin präsent war. Das Jahr 2005 mit der Prüfung zur Zulassung als italienischer Avvocato vor der Anwaltskammer hat dann nochmal buchstäblich mein Leben verändert.

Inwiefern?

Ich war jetzt einer der Wenigen, die die echte Doppelzulassung hatten!

Das war also ein Alleinstellungsmerkmal?

Genau, ich bin damit in einen exklusiven Kreis aufgerückt. Ich wusste: Jetzt kann ich meine Kanzlei im größeren Stil aufziehen, ich muss kein Einzelkämpfer bleiben.

Das klingt so leicht: Dann wurde ich in Italien als Anwalt zugelassen und konnte dort fest arbeiten. Welche Hürden mussten Sie nehmen, wie haben Sie sich in das immer noch fremde Rechtssystem eingefuchst?

Sie müssen sehen: Ich hatte Zeit, mich an Italien und italienische juristische Gepflogenheiten zu gewöhnen von 1996 bis 2005. Ich habe intensiv gelernt in dieser Zeit. Meine Schriftsätze waren am Anfang natürlich eine Katastrophe, aber sie wurden immer besser. Aber stimmt schon, es war eine Sisyphusarbeit. Der Schlüssel zum Erfolg in einem fremden Rechtsgebiet liegt in der Beherrschung der Sprache. Für die Anwaltsprüfung, die in einem mündlichen Kolloquium bestand, musste ich alle meine bearbeiteten Mandate dokumentieren und Fallzahlen nachweisen. Mit dem beginnenden wirtschaftlichen Erfolg habe ich mich dann nach Mailand, ins Wirtschaftszentrum, verändert. Innerhalb Deutschlands habe ich nach Karlsruhe in Frankfurt eröffnet und für jeden Standort einen fähigen Partner gefunden, der diesen leiten konnte. Anschließend kam Zürich, ein sinnvolles Länderdreieck, und plötzlich ging es schnell. Heute haben wir acht Büros in Italien – von Mailand bis Lecce.

Sie müssen Spezialist sein für die kulturellen Unterschiede Deutschland/Italien. Welche Beispiele können Sie nennen und wie kommen Sie damit zurecht?

Das Gerichtsverfahren zum Beispiel ist völlig anders als in Deutschland. Sie haben Sammeltermine. Um neun Uhr Sammeltermin Landgericht Bari. Nun haben Sie nicht einen festen Termin, sondern es sind zehn Fälle um dieselbe Uhrzeit anberaumt. Auf einem Sideboard sind die Akten aufgestapelt und jedes Anwaltspärchen muss erst einmal die Akten finden, dann müssen Sie ein Protokoll ausfüllen und dies dem Richter übergeben; das zieht sich schon mal einen ganzen Tag hin. Entweder wird dann verhandelt oder nur ein neuer Schriftsatz angeordnet – in dieser ganzen Zeit haben Sie Gelegenheit, den Fall mit dem gegnerischen Anwalt zu erörtern und sich im Zweifel zu vergleichen. Land und Leute von Nord nach Süd lernen Sie auf diese Weise sehr gut kennen.

Welches inhaltliche Profil geben Sie Ihrer Kanzlei? Wie würden Sie Ihr Geschäftsmodell einem Fremden erklären?

Wir sind heute 30 Berufsträger, davon 15 Partner und haben zwei angeschlossene Notariate in Bologna und Mailand. In Karlsruhe unterhalten wir zusätzlich ein Übersetzungsbüro. Das alles haben wir mit einem Kern-Team aus drei deutschen Seniorpartnern und weiteren Juniorpartnern in Italien aus eigener Kraft aufgebaut. Das sind keine Kooperationen, Bürogemeinschaften oder Außensozietäten.

Wie ist die Kanzlei strukturiert?

Wir versuchen die Struktur schlank zu halten. Jeder der drei Senior-Partner hat ein Aufgabengebiet, das er verantwortet. Inhaltlich decken wir sowohl fast die ganze Breite des Zivilrechts als auch Strafrecht ab. Jeder, der irgendwie Ärger hat, soll zu uns kommen können. Unsere Spezialisierung liegt nicht in den Rechtsgebieten, sondern in der Mischung Deutschland – Italien. Das Einzigartige bei uns ist: Sie werden in Deutschland von den gleichen Anwälten beraten und betreut, die Sie am Ende beim Prozess in Italien auch vertreten. Das ist ein nahtloser Service und in dieser Form wirklich einzig.

Hat sich die Kanzlei bis zum heutigen Zuschnitt entlang strategischer Überlegungen entwickelt oder waren Zufälle ausschlaggebend?

Zufall oder Strategie? Nun ja, sowohl als auch, würde ich sagen. Vor allem aber war viel Leidenschaft dabei – und die ist immer noch da. Für mich war immer wichtig, dass sowohl die Kanzlei als auch ich persönlich als Anwalt mich weiterentwickle. Extrem wichtig war auch, anderen, meinen Partnern etwas zuzutrauen. Je mehr ich abgegeben habe, desto mehr habe ich gewonnen. Und nur deshalb habe ich die berechtigte Hoffnung, dass die Kanzlei auch noch in 25 Jahren weiterbetrieben wird, wenn ich längst ausgeschieden bin.

Was würden Sie aus heutiger Sicht anders machen, wenn Sie nochmal vor den gleichen Entscheidungen stünden?

Ich habe eine bessere Menschenkenntnis inzwischen. Sowohl Bewerber als auch Mandanten kann ich heute viel besser abschätzen. Vielleicht hätten wir früher dorthin kommen können, wo wir heute sind, hätten früher eine Partnerschaftsstruktur aufbauen können, hätten schneller und effizienter im Aufbau sein können. Aber grundlegend anders hätte ich nichts gemacht. Ich bin einfach kein Karrierist.

Wohin soll sich die Kanzlei idealerweise noch entwickeln?

Ganz ehrlich: Ich kann es Ihnen nicht sagen. Es gibt keine festgelegte Größe, ab der ich sagen würde, jetzt reicht es. Das muss nach Marktgegebenheiten und der Wettbewerbssituation immer wieder neu entschieden werden. Wenn wir Marktlücken und Chancen sehen, werden wir weiterwachsen. Wenn Sie mir 1996 gesagt hätten, dass wir 2013 30 Anwälte haben, hätte ich Sie für verrückt erklärt. Mein Traum ist mit der Form und Größe, die wir jetzt haben, eigentlich verwirklicht. Was ich sehe und was sich noch weiter so entwickeln soll ist, dass die jüngeren Partner sich von mir emanzipieren, immer weniger von meiner Sichtweise abhängen. Die Kanzlei wird dadurch stabiler.

Was können Sie Berufseinsteigern raten?

Auf keinen Arbeitsmarkttrend, auf keine Berufschancen-Prognose, auf keinen Einflüsterer hören! Machen, worauf man Lust hat, wofür das Herz schlägt. Auch meinen Kindern würde ich keinesfalls blind zu Jura raten, nur damit sie die Kanzlei übernehmen können. Man muss wirklich tief in sich hineinhören und nachforschen, worauf man Lust hat. Nie sollte man ein Studium anfangen oder einen Beruf ergreifen nur aus Prestigegründen oder weil vermeintlich das große Geld lockt. Das Geld kann ja gerne irgendwann kommen, aber es darf nicht die Triebfeder für den Beruf sein. Sonst ist der Burn-out vorprogrammiert.

Was ist Ihr größter Wunsch für die Zukunft?

Ich möchte noch so lange wie möglich als Anwalt arbeiten. Nur noch Golf zu spielen wäre die größte Strafe für mich!

Herr Dr. Reiß, ich danke Ihnen für das Gespräch!

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